Metzingen

Leseprobe Prolog

Die Alb fiel überall jäh und prallig ab, nur bei der Ebene des Ermstals war sie sanfter gestimmt. Diese freundliche Lage zeichnete Metzingen aus. Auf seiner Markung trafen sich Äcker und Wiesen mit Obstzucht und Weinbau. Im milden Klima an den südlichen Abhängen gediehen Trauben und Textilhandwerk gleichermaßen, sodass sich ländliche und städtische Sitten aufs Trefflichste vermischten. Vom Lindenplatz, wo der Viehmarkt stattfand, zog sich die Langgasse, die geschottert und mit Kandeln versehen war, gen Rathaus. Sie beherbergte niedrige Bauernhäuser, Handwerkerstätten und Ladengeschäfte. An Markttagen stauten sich hier Leiterwagen, Räuberkarren und Gespanne aus den umliegenden Orten. Im Norden begrenzten Kelterplatz und Spalerbach das Pfarrdorf. Enge, krumme Straßen zogen sich in einem weiten Bogen gegen Mittag zu um die baumbestandenen Schlossgärten inmitten des Häusergewirrs bei der Martinskirche.

Leseprobe Ostern 1805

Zu Ostern erklang ihre große Glocke. Die vollen Schläge hallten in den Gassen nach. Beim neunten Mal öffneten sich die ersten Türen, und im schwarzen Sonntagsstaat traten mehr ehrbare Bürger als sonst auf die reinlich gefegten Straßen.
An der Kalebskelter hielt Unterbürgermeister Gfrörer den Zunftmeister der Strumpfweber auf und sagte: »Kromer, hast du gehört? Der Pfarrer soll eine Erscheinung gehabt haben. Im hinteren Pfarrgarten war’s, gestern erst. Er hat die Hände zum Himmel gehoben. Meine Frau hat’s gesehen, sie war bei der Nachbarin. Karsamstag fleht er immer Jesus an. Jedes Jahr wartet er, dass dieser zu ihm spricht. Die Weibsleute haben sich heimlich herangeschlichen, und da haben sie gehört, wie der Pfarrer gerufen hat: ›Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?‹ Er hat sich der Länge nach auf die harte, kalte Erde geworfen. Da ist plötzlich ein Licht aufgeflackert hinter den kahlen Zweigen des Pflaumenbaums und eine Stimme hat gesagt: ›Du machsch des scho recht. Hasch a großes Herz. Des wird di ned em Stich lassa. Aber pass guot auf, dass da emmer auf deim Weg bleibschd.‹ Meine Frau schwört, dass es nicht der Pfarrer war, der da gesprochen hat. Am alten Pflaumenbaum sind die Knospen angeschwollen und aufgeplatzt. Zugucken hat man können. Reinweiß waren die Blüten, nicht zartrosa. Da hat sie drei Kreuze geschlagen wie die Katholischen.«

Leseprobe Herbst 1805

Sie gingen zur Erms hinunter. Hinter einer alten Weide mit einem verwachsenen Stamm gluckste und rauschte ein Wasserstrudel und deckte seine Worte zu. Die Buben spielten Verstecken in der Nähe. Besser, sie schnappten nichts auf.
»Ihr Schwager hat es eingefädelt, dass Sie nach Kirchberg an der Murr versetzt werden. Doch erst in zwei Jahren. Dann können die Mädchen leicht für alle Fremden als Zwillinge gelten. Bis dahin müssen Sie hier in Metzingen ausharren. Frau Breusch und ihr Mann wandern nach Amerika aus. Die beiden werden die Prämie nicht ausschlagen. Für Sie gibt es in Kirchberg einen Neuanfang. Bis dahin richten Sie es sich in Metzingen ein. Nanette darf den Pfarrgarten, der groß genug und gut abgeschirmt ist, einzig in Begleitung der Eltern verlassen, wie es auch in den Erziehungsanweisungen steht, immer mit einem Häubchen versehen, auf dem Arm gehalten oder mit Louisle in einem Wagen, wie Sie ihn benutzen, wenn Sie hierher in den Baumgarten gehen. Ich denke, wir verstehen uns.«
Steinheil strich sich über seine teuflische Braue. »Verzeihen Sie, was passiert ist. Es wird nicht erneut vorkommen. Schwager Ferdinand hat uns von der Pfarrstelle erzählt. Wenn wir nur das Nanele mitnehmen dürfen.«