Kirchberg an der Murr

Leseprobe Umzug 1807

Zum Abendläuten erreichten sie die ersten Häuser, die zu Kirchberg zählten, fuhren aber bald noch eine Viertelstunde auf einer reinlich gehaltenen Dorfstraße an Obstwiesen und Gemüsegärten vorbei. In der langsam nachlassenden Hitze übertönte der schwere Duft von Lavendel die Würze des Josefskräutleins. Sie würde es recht bald brauchen. Viel reine Muttermilch gab es davon, und die Kinder liebten den herzhaften Geruch des Basilienkrauts. Die Häuser drängten sich dichter aneinander.

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Leseprobe Einzug ins Pfarrhaus 1807

In der Magengasse neben der Lukaskirche warteten ihre Eltern. Aus Oberesslingen waren die Schwiegerleute herübergekommen. Mutter Steinheil versteckte sich unter ihrer Haube und murmelte: »Ach Gott, ach Gottle.«
Die Pferde zogen den gedeckten Wagen durch die Einfahrt in den Pfarrhof.
»Die musstet ihr also auch mitbringen!« Ihre Mutter rieb sich über das linke Ohrläppchen mit dem Haarbüschel. »Es hat noch nie Zwillinge gegeben in der Familie. Ich wollte bei der Taufe nichts sagen und euch das Fest verderben. Gleich habe ich es gesehen, dass etwas nicht stimmt. Frau Unterbürgermeister Gfrörer ging es genauso, und das Wetter war eine Strafe Gottes. Ihr wollt davon nichts wissen. Als ob eure Kinder nicht reichen. Und nun kommt wieder eines. Woher hattet ihr zwei gleiche Taufkleider? Nicht von unserer Familie und nicht von den Gegenschwiegern.«
»Liebste Mutter, alles hat seine Ordnung«, sagte Johanna leise. »Und bedenken Sie die Ohren der Kinder.«
Ihr Vater klemmte sich die Bibel unter den Arm und schob Nanette durch die Toreinfahrt zur Magengasse. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger wies er nach oben. »Der Drache wird dich fressen. Vergiss das nicht.«
Das Nanele schlug die Hände vors Gesicht und zog die Schultern hoch. Sie strich ihm übers Haar.

Leseprobe Einzug ins Pfarrhaus 1807

In der Magengasse neben der Lukaskirche warteten ihre Eltern. Aus Oberesslingen waren die Schwiegerleute herübergekommen. Mutter Steinheil versteckte sich unter ihrer Haube und murmelte: »Ach Gott, ach Gottle.«
Die Pferde zogen den gedeckten Wagen durch die Einfahrt in den Pfarrhof.
»Die musstet ihr also auch mitbringen!« Ihre Mutter rieb sich über das linke Ohrläppchen mit dem Haarbüschel. »Es hat noch nie Zwillinge gegeben in der Familie. Ich wollte bei der Taufe nichts sagen und euch das Fest verderben. Gleich habe ich es gesehen, dass etwas nicht stimmt. Frau Unterbürgermeister Gfrörer ging es genauso, und das Wetter war eine Strafe Gottes. Ihr wollt davon nichts wissen. Als ob eure Kinder nicht reichen. Und nun kommt wieder eines. Woher hattet ihr zwei gleiche Taufkleider? Nicht von unserer Familie und nicht von den Gegenschwiegern.«
»Liebste Mutter, alles hat seine Ordnung«, sagte Johanna leise. »Und bedenken Sie die Ohren der Kinder.«
Ihr Vater klemmte sich die Bibel unter den Arm und schob Nanette durch die Toreinfahrt zur Magengasse. Mit dem ausgestreckten Zeigefinger wies er nach oben. »Der Drache wird dich fressen. Vergiss das nicht.«
Das Nanele schlug die Hände vors Gesicht und zog die Schultern hoch. Sie strich ihm übers Haar.

Leseprobe Flucht aus Stuttgart 1814

In Ludwigsburg ging es genauso zu wie in Stuttgart. »Wir sind in Paris!«, hallte es Nanette in den Ohren. Sie fragte nach der Postkutsche gen Marbach. Alle schüttelten den Kopf. Ein Lohnkutscher winkte sie zu sich. Ein runder schwarzer Hut lag neben ihm auf dem Bock. Er faltete ein Journal zusammen, bevor er heruntersprang. Die »Allgemeine Zeitung«, die kannte sie vom Bergrat, der sie von Onkel Ludwig bekam.
»Wohin soll’s denn gehen an einem solchen Tag?«
»Nach Kirchberg zum Pfarrer. Den Tag habe ich mir nicht ausgesucht. Ich hab aber etwas Geld.«
Das Herz drohte ihr aus dem Leib zu springen. Wenn sie jetzt nicht weiterkam? Laufen musste? Sie kannte keine Richtung.
»Kinder fahren heute umsonst. In Paris sind die Württemberger so schnell nicht mehr.«
Er half ihr in den Wagen und legte ihr ein Tuch um die Schultern. »Das hast du vergessen. Sicher erinnerst du dich. Ich habe gewusst, dass wir uns wiedersehen, und es aufgehoben.«
Das sonnengelbe Schultertuch der Mutter! Nanette brachte keinen Ton heraus. Alles musste wohl so sein. Süß wie die Mutter in Kirchberg roch das Tuch. Es musste heim und sie wollte mit. Wieder schob sie die Hände unter die Oberschenkel. Das ging. Eine ganze Kutsche für sie alleine. In gemächlichem Trab schaukelten sie über eine schmale Straße.
Am Turm der Alexanderkirche erkannte sie später Marbach, der Vater hatte sie einmal mitgenommen. Schiller war dort geboren worden, das hatte sie sich gemerkt.

Leseprobe Pfingsten 1819

»Ich rieche Regen!« Schwester Raillard streckte den Zeigefinger aus dem Fenster der Kutsche. »Große Kälte. Wie oft kurz nach der Entsendung des Heiligen Geistes.«
»Aber Schwester Raillard, es ist kein Wölkchen am Himmel. Die Reben blühen im Rosenmonat, die Luft ist mild. Der Gänsen-Jakob! Gleich sind wir da!« Ihr Herz hüpfte. Louisle, ich komme! Ecksteinsieben, ich bin da. Alles wird gut.
Die Kutsche stoppte vor dem Pfarrhaus, wo der Vater wie zufällig an der Tür wartete. »Wie schön, dich bei uns zu haben. Geh zu Louisle.« Er strich ihr übers Haar und wandte sich um. »Seien Sie mir willkommen, Schwester Raillard.«

 Von der großen Hofeinfahrt schaute Nanette in den Garten. Ein umfriedeterHof war es, das hatte sie auf diese Weise nie bemerkt. Rosine hängteWäsche auf. Unter den blühenden Pflaumenbäumen spielten die Mädchen ausder Kleinkinderschule. Maria saß auf einem Stuhl und strickte, eine Ganszerrte an der weißen Schürze einer der Kleinsten. Magdalena lehnte an derMauer und hörte einer Nachbarin zu. Mit Stöcken schlugen einige Buben dasGras. Die Bäume standen in einem weiten Kreis, der Weg schlängelte sichzum Zaun, hinter dem die Wiese lag. Rechts lief die lange Mauer, an dersie früher den Ball hochspringen ließen. In der Mitte des Gartens knieteLouisle im Gras und setzte einem Mädchen mit einer rosafarbenen Schürzeeinen Blumenkranz auf. Wie gerne hätte sie sich neben die beiden gehockt,aber das war unmöglich.

Wenig später traf sie Louisle auf dem Dachboden. Sie rutschten schnell in ihren alten Kinderdialog. Es ging also doch. Drei Sätze für sie. Drei für Louisle. In einem leichten Trab flogen sie durch die erste Stunde. Im scharfen Galopp ritten sie durch die zweite.
»Es war einer da aus Metzingen. Er hat nach dem falschen Zwilling gefragt«, sagte Louisle atemlos beim Glockenschlag zur dritten Stunde. »Kromer heißt er und Zunftmeister ist er. Er hat es gewusst, dass wir keine Zwillinge sind, wie die Geschwister, die älteren.«